16
»Wer hat Eiersandwiches dabei?« Frank ließ anklagend seinen Blick über die Gesellschaft wandern. »Sie stinken den ganzen Bus voll!«
»Wir nicht. Wir haben Thunfisch und Mais, stimmt‘s, Neil?«, sagte Jamie ängstlich. Er fürchtete sich vor Frank und heute mussten auch noch alle besonders nett zu ihm sein.
»Jaaa«, dehnte Neil. Er hatte sich in dem einen Monat Florida einen starken amerikanischen Akzent zugelegt.
»Was haben Sie dabei, Charlie?«, erkundigte sich Julia.
»Knäckebrot mit Hüttenkäse.«
Charlie schnitt eine Grimasse. »Ich bin auf Diät.«
»Sie brauchen doch keine Diät«, protestierte Julia.
»Und ob! Ich rede von Hochzeit, aber ich habe Schenkel wie ein Truthahn, stimmt‘s, Nick?«
»Hm? O ja«, sagte Nick, der sich jedes Mal auszuklinken schien, wenn das Wort »Hochzeit« fiel.
»Ich finde, du siehst toll aus, Mum!«, schwang Gavin sich zu ihrer Verteidigung auf.
»Ich danke dir.« Sie wandte sich wieder Julia zu. »Ich habe es ausgerechnet: Wenn ich alle sechs Monate nur ein Pfund abnehme, erreiche ich mein Zielgewicht genau pünktlich.«
»Nun, das erscheint mir praktikabel«, sagte Julia ermutigend.
»Ist es auch.« Charlie hielt sich wirklich tapfer, wenn man bedachte, dass es nach irischer Rechtsprechung mindestens vier Jahre dauern würde, bis Nicks Scheidung von Didi durch wäre. Keine ihrer Verlobungen hatte länger als achtzehn Monate gehalten. Doch sie behielt ihren Optimismus. Gavin schaute verstohlen zu Jamie und Neil hinüber. Sie trugen Laufschuhe mit Blinklichtern in den Sohlen und brauchten mit ihrer Mutter nicht über Hochzeiten zu reden.
»Muss jemand noch auf die Toilette, bevor wir auf die Autobahn fahren?«, rief Martine vom Fahrersitz.
»Nein! Nein!«, riefen alle, obwohl ein paar von ihnen eigentlich gemusst hätten, doch keiner wollte Frank durch den indirekten Hinweis auf einwandfrei arbeitende Nieren noch zusätzlich bekümmern. Nicht, während seine Verlobte, als »ernster Fall« eingestuft, in einem New Yorker Krankenhaus lag.
»Wir sind bald da«, beruhigte Julia Frank wie ein Kind. »Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen allen. Sie sind sehr freundlich.«
Sie hatten beschlossen, ihn vor dem Festival zum Flughafen zu bringen - als Akt der Solidarität. Er würde nach London fliegen und von dort weiter nach New York.
»Wie geht es ihr denn?« Charlie beugte sich zu ihm hinüber, um seine Hand zu tätscheln.
»Den Umständen entsprechend gut, wie es so schön heißt. Die Ärzte versuchen immer noch, dahinter zu kommen, warum ihre rechte Niere plötzlich versagt hat.« Es war ein schrecklicher Schock gewesen. Sie war guter Dinge bei der Dialyse gewesen - nicht wirklich guter Dinge, natürlich -, und auf einmal hatte ihre rechte Niere den Geist aufgegeben. Das waren Sandys Worte gewesen, als sie gestern Abend mit ihm gesprochen hatte. Nun ja, gesprochen hatte sie nicht mit ihm, denn im Krankenhaus waren Handys verboten, aber sie hatte ihres reingeschmuggelt und es heimlich lange genug benutzen können, um ins Internet zu kommen, sich dort über Nierentransplantationen und die diesbezüglichen Konditionen ihrer Krankenversicherung zu informieren und ihm dann eine ausführliche E-Mail zu schicken, hatte Frank erzählt.
Dann arbeitet jetzt also nur noch eine Niere?«, sagte Charlie.
»Und die immer weniger.«
Alle schnalzten bedauernd mit der Zunge und schüttelten die Köpfe. Was für ein Pech.
»Aber die Arzte hoffen, dass sie so lange durchhält, bis sie operieren können. Sandy steht ganz oben auf der Warteliste, wissen Sie. Sie warten nur noch auf einen passenden Spender.«
»Ich kannte mal eine Frau, der eine Niere transplantiert wurde«, steuerte Nick zu der Unterhaltung bei. »Es war ein spektakulärer Erfolg.«
»Nicht für den armen Kerl, dem sie vorher gehört hatte«, meinte Charlie trocken, aber niemand lachte.
»Sandy wird nicht erfahren, wessen Niere sie bekommt«, sagte Frank, als mache das einen Unterschied.
»Ich bin sicher, sie wird auf jeden Fall glücklich darüber sein«, sagte Julia.
Charlie tätschelte wieder seine Hand. »Es wird alles gut gehen, Sie werden sehen.« Dann rief sie nach vorne: »Martine! Können Sie einen Zahn zulegen? Der arme Mann hier muss seinen Flieger kriegen!«
Martine warf einen finsteren Blick nach hinten. »Ich fahre schon so schnell es geht.«
Und das stimmte. Das Gewicht der Zelte, Transparente, Verpflegung für zwei Tage, Rucksäcke und Menschen drohte den altersschwachen Kleinbus in die Knie zu zwingen, aber alle anderen in Frage kommenden Fahrzeuge waren bereits vermietet gewesen, und von den Privatautos bot keines genügend Platz. Einige, einschließlich Amanda und die beiden französischen Kumpels von Martine, hatten eine Mitfahrgelegenheit gefunden.
Es wurde immer deutlicher, dass Martines kleiner Aktivistentrupp nicht übermäßig tüchtig war. Aber sie hatten das Herz auf dem rechten Fleck, darin waren sich alle einig.
»Ich würde sagen, wir legen jetzt eine Schweigeminute ein«, schlug Charlie vor. »Für Sandy!«
»Für Sandy!«, riefen alle und verstummten. Ganz hinten im Bus schnaubte Grace verächtlich. Ewan, der neben ihr saß, fragte: »Was ist?«
»Findest du nicht, dass das Ganze nicht auch ein bisschen unwahrscheinlich ist? Diese ganze Sandy-Geschichte?«
»Eigentlich nicht. Ich bin sicher, sie wäre lieber nicht krank.«
»Und ich bin sicher, dass es kein Zufall ist, dass sie ausgerechnet an dem Tag eine beidseitige Nierentransplantation braucht, an dem Frank sein Haus verkauft hat.«
Charlie schaute sich um und zischte missbilligend ob der Ruhestörung.
»Das sieht dir gar nicht ähnlich«, bemerkte Ewan leise.
»Was?«
»So zynisch zu sein. Glaubst du nicht mehr an die Liebe?«
Sie schaute aus dem Fenster und lachte auf. »Natürlich tue ich das.« Da sie diesen Faden nicht weiterspinnen wollte, wechselte sie abrupt das Thema. »Du bist unheimlich braun geworden! Das steht dir.«
Und er trug Kontaktlinsen, was ihn ungewohnt wach wirken ließ. Meist zog er es vor, durch seine randlose Brille zu spähen, was andere dazu veranlasste, ihm alles Mögliche zu bringen, wie zum Beispiel frisch aufgebrühten Kaffee, und ihn nicht mit unangenehmen Dingen zu belästigen, wie beispielsweise mit Stromrechnungen oder dem Hinweis auf seine emotionale Unverantwortlichkeit. »Danke.«
»Na los! Du kannst es ruhig sagen«, forderte sie ihn auf. »Was?«
»Dass ich fett geworden bin.«
»Das würde ich nie tun. Ich meine - sieh mich an.« Er tätschelte seinen Bauch, der kaum größer geworden war.
»Ich werde nicht beleidigt sein«, versprach sie.
»In dem Fall darf ich dir vielleicht einen Slimchoc-Riegel anbieten.«
Sie lachte. Er hatte sie schon immer zum Lachen bringen können. »Und ein Päckchen Rasierer?«
»Ich hatte noch nicht das Vergnügen, deine Achselhöhlen zu sehen.«
Angesichts der Tatsache, dass sie ihn letzte Nacht nicht in ihr Einzelbett eingeladen hatte, war das eine äußerst unkluge Bemerkung von ihr gewesen. Er hatte in Adams verlassenem Zimmer mit den Jungs auf dem Fußboden kampiert. Nach dem Schock, seine stets wie aus dem Ei gepellte Großstadtfrau barfuß und mit wilder Mähne vorzufinden, war das wahrscheinlich der zweite deutliche Hinweis für ihn, dass ›etwas nicht stimmten Sie spürte, dass er sie ansah.
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, uns heute mitzuschleppen«, sagte er.
»Mann! Natürlich nicht.« Jetzt hatte sie zum zweiten Mal »Mann« gesagt - und sie hatte das Gefühl, dass ihre Nase zehn Zentimeter länger geworden war.
»Wir wollen dir nämlich nicht im Weg sein«, setzte er hinzu.
Sie fuhr zu ihm herum. »Was soll denn das heißen?« Er hatte letzte Nacht doch nicht etwa einen Slip von ihr unter Adams Bett gefunden? Nein. Ewan würde niemals ein Stück ihrer Unterwäsche erkennen - nicht einmal die Dinge, die er ihr selbst gekauft hatte.
»Naja - bei deinem Versuch, dich zu finden, meine ich.« Aber hallo! Woher wusste er, dass sie sich suchte? War das derselbe Mann, der einmal auf der Straße an ihr vorbeigegangen war und sie nicht erkannt hatte (ganz zu schweigen von ihrer Unterwäsche)?
»Ich habe einfach die Gelegenheit bekommen, etwas ganz anderes zu tun, Ewan«, sagte sie, um Diplomatie bemüht. »Vollkommen neue Erfahrungen zu machen. Vielleicht ist es dir in Florida ja genauso gegangen.«
»Ja, jetzt, wo du es erwähnst...«
Sie wartete voller Hoffnung. Würde er ihr gestehen, dass er im Hotelzimmer stundenlang Schwulenpornos geguckt hatte, wenn die Jungs schliefen? Oder vielleicht ein Kilo Kokain geschnupft? Hatte er sich in Disneyworld an Schneewittchen herangemacht? War es möglich, dass auch er sich verändert hatte?
»Nein - ich habe eigentlich nichts sensationell anderes getan«, gestand er nach einigem Überlegen, und ihre Hoffnung fiel in sich zusammen. »Aber ich musste mich ja auch allein um zwei Kinder kümmern«, setzte er in einem vorwurfsvollen Unterton hinzu. »Da sind die Möglichkeiten begrenzt.«
»Das weiß ich, Ewan - glaube mir.«
»Sie haben dich vermisst, Grace.«
»Ich habe sie auch vermisst.«
»Vor allem, als diese Busengeschichte passierte ...«
»Natürlich.«
»Er braucht dich wirklich, Grace. Das ist der wahre Grund für unsere vorzeitige Rückkehr. Ich dachte, Jamie hat ein Problem, und in dieser Situation ist der beste Platz für ihn bei seiner Mutter.«
»Du lieber Himmel, Ewan - hör mit diesem Bockmist auf!«, fuhr sie ihn an.
»Was?« Er starrte sie verständnislos an.
»Du hast getan, was du immer tust. Gib es einfach zu! Du hast dich zu der vorzeitigen Rückkehr entschlossen, damit ich mich mit dem Problem auseinander setzen muss und du es von der Backe hast!«
»Das ist ungerecht, Grace«, beschwerte er sich gekränkt.
»Schließlich habe ich mich sehr wohl damit auseinander gesetzt. Wer hat denn mit der Klinik und mit Ärzten und mit der Versicherung konferiert? Wer hat dafür gesorgt, dass eine Hormontherapie begonnen wurde?«
Sie seufzte. Es war sinnlos. »Du, Ewan.«
»Nein, nein - so schnell wollen wir das Thema nicht beenden. Offenbar hältst du mich für unfähig, mit Problemen umzugehen, und wenn ich es doch mal schaffe, ist es dir nicht recht, stimmt‘s?«
»Sei nicht albern.«
»Du willst, dass ich Mist baue, stimmt‘s? Du wärst begeistert gewesen, wenn wir halb verhungert und in Lumpen aus Amerika zurückgekommen wären. Dann hättest du dich so richtig überlegen fühlen können. Ich habe es bis obenhin, immer im Unrecht zu sein!«
»Dann tu was dagegen!«, zischte sie. »Du hast jetzt zehn Jahre auf dem Rücksitz gesessen - und das habe ich bis obenhin!«
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass atemlose Stille um sie herum herrschte - und der Bus war stehen geblieben. O Gott! Hatte Martine beschlossen, sie auf die Straße zu setzen, weil sie ihre Streiterei nicht mehr hören konnte?
Nein. Niemand achtete auf sie. Aller Blicke waren nach vorne gerichtet, wo Julias Sohn Michael sich, mit Taschen, Rucksäcken und einer riesigen Kühlbox beladen, zur Tür hereinzwängte. Ihm folgte Gillian, ganz in strahlendem Weiß und mit einer Fliegenpatsche bewaffnet, und schließlich Susan, deren Gesicht eine Mischung aus Gereiztheit und Langeweile ausdrückte. Also waren noch Eintrittskarten da gewesen. Julia hatte Grace gestern Abend anvertraut, sie hoffe, dass es keine mehr gebe.
»Mammy!«, rief er, und sie stürzten sich auf Julia.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie ihr Gepäck in den Fächern über den Sitzen verstaut und sich endlich niedergelassen hatten - und dann wurde Gillian hektisch, weil sie eine Schmeißfliege entdeckte.
Sie gab Michael die Patsche. »Bring sie um, Michael! Die Biester können bis zu fünfzig verschiedene Krankheitserreger an ihren widerlichen Beinen haben!«
Schließlich war die Schmeißfliege erlegt, und der Bus setzte sich wieder in Bewegung. Sie kamen an Bächen vorbei, an sanften Hügeln und grünen Wiesen, und Grace betrachtete neidisch die Ruhe ausstrahlenden Schafe und Kühe auf der Weide. Die hatten es gut! Von denen musste sich keiner irgendwelche Sorgen machen! Sie hingegen würde gleich auf dem Festival Adam begegnen. Wie würde er reagieren, wenn sie mit Mann und Kindern im Schlepptau erschien? Wahrscheinlich würde er ausrasten. Und dann? Als habe Ewan ihre Gedanken gelesen, sagte er: »Wir müssen über ein paar Dinge reden, Grace.«
»Ja.«
»Diese zwangsweise Trennung für einen Monat war vielleicht gar nicht so schlecht«, meinte er optimistisch. »Glaubst du?«
»Ja. Ich denke, alle Paare sollten ihrer Ehe ab und zu eine Atempause gönnen. Man hat Gelegenheit nachzudenken und sieht viele Dinge plötzlich in einem anderen Licht. Man erkennt, woran man arbeiten muss.«
»Das ist aus einem deiner Werbespots, Ewan!«
Er runzelte die Stirn. »Tatsächlich?«
»Ja! Aus dem für den Zitronenschalen-Fußbodenreiniger«, sagte sie verstimmt.
»O ja!« Er freute sich darüber, dass sie sich daran erinnerte. Dann wurde er ernst, nahm ihre Hand und drückte sie. »Das Wichtigste ist, dass wir zu Hause sind, Grace. Jetzt wird das Leben wieder seinen normalen Gang gehen.«
»Vielleicht.« Sie bemühte sich, es positiv klingen zu lassen.
Doch es war zu viel passiert in diesem Sommer, als dass sie ihren Kaftan einfach ausziehen und ihr altes Leben nahtlos fortsetzen könnte - auch nicht mit einigen, kleinen Verbesserungen. Sie konnte nicht mehr die tüchtige, spießige Frau mit einem guten Posten und einer durchorganisierten Familie sein, denn diese Frau gab es nicht mehr. Sie hatte sich in eine Person verwandelt, die noch nicht ganz ausgegoren war: eine pummelige Frau, die durcheinander und mit Mängeln behaftet war und deren Haare geschnitten gehörten. Aber sie gefiel ihr besser.
Sie hielten vor der Abflughalle.
»Wollen Sie etwa mitkommen?«, fragte Frank alarmiert, als Grace ebenfalls aus dem Bus stieg.
»Nein, natürlich nicht. Ich möchte mich nur von Ihnen verabschieden.«
Er hatte sich fein gemacht und sah mit seinem Anzug und der Krawatte aus, als ginge er zu einem Vorstellungsgespräch. Am Kinn hatte er eine kleine Blessur vom Rasieren. Er wirkte wie ein Landei auf dem Weg in die Großstadt, und Grace spürte ihre Kehle eng werden. »Sind Sie okay?«, fragte Frank besorgt. »Ja. Ich hoffe nur, dass Sandy zu würdigen weiß, was Sie ihr zuliebe alles auf sich nehmen.«
»Das ist doch das Mindeste, was ich für sie tun kann«, erwiderte er. »Immerhin liegt sie schwer krank in der Klinik, und ich bin kerngesund.«
»Wissen Sie, in welcher Klinik sie liegt und auf welcher Station und in welchem Zimmer?« Grace hasste sich für den Zweifel in ihrer Stimme.
»Zimmer 299, zweiter Stock, Memorial Hospital, New York«, ratterte Frank herunter. »Das hat sie mir alles gestern Abend gemailt.«
»Gut.« Vielleicht war ihr Misstrauen ja tatsächlich unbegründet.
»Allerdings schrieb sie, das könnte sich kurzfristig ändern«, setzte er hinzu.
»Wie das?«
»Falls sie wegen ihrer Versicherung in ein billigeres Krankenhaus verlegt werden muss.«
Grace spürte, wie ein tiefer Seufzer sich von ihren Zehen auf den Weg nach oben machte. »Ich verstehe.«
»Das ist in Amerika anders als bei uns, wissen Sie? Man muss ausreichend versichert sein, wenn man ordentlich behandelt werden will.«
»Und Sandy ist nicht ausreichend versichert?«
Frank überprüfte angelegentlich das Namensschild an seiner Reisetasche. »Sie dachte, ihr Arbeitgeber würde sie versichern. Das stand jedenfalls in ihrem Anstellungsvertrag. Es war ein Schock für sie, als sie herausfand, dass nichts dergleichen geschehen war. Sie wird vor Gericht gehen, wenn das alles vorbei ist.«
»Dann bekommt sie die Nieren nur, wenn sie irgendwo Geld auftreibt?«
»Man kann Gesundheit nicht mit Geld aufwiegen, stimmt‘s? Alles Geld der Welt ist nichts wert, wenn man krank ist. Und das begreift man, wenn ...«
»Was wird es kosten? Ungefähr hunderttausend Dollar?«
»Das begreift man, wenn ein Mensch krank wird, der einem nahe steht«, ignorierte er ihre Frage. »Wenn dieser Mensch im Sterben liegt. Dann erkennt man, was im Leben wirklich wichtig ist.«
»Oder bekommt man bei zwei Nieren Mengenrabatt?«
Frank hielt sich wie ein kleiner Junge die Ohren zu. »Hören Sie auf! Hören Sie auf! Sie ist meine Verlobte, und ich will nicht mehr hören, dass Sie über sie herziehen. Ständig haben Sie etwas zu nörgeln und zu sticheln. Sandy würde über Sie niemals etwas Schlechtes sagen - dazu ist sie viel zu nett!«
»Manchmal sind Menschen nicht, was sie zu sein scheinen, Frank.«
»Was soll das nun wieder? Sie wissen doch gar nichts. Was gibt Ihnen das Recht, Ihre Nase in fremder Leute Angelegenheiten zu stecken und die Menschen zu zerpflücken, die sie lieben? Sie halten sich wohl für was Besseres? Ausgerechnet Sie, die mit ihrem Mann und ihren Kindern in diesem Bus sitzt und die ganze Zeit, während sie weg waren, mit einem anderen Mann geschlafen hat? An Ihrer Stelle würde ich erst mal mein eigenes Leben in Ordnung bringen, bevor ich mir über jemand anderen das Maul zerreiße!«
»Ich sorge mich doch nur um Sie, Frank.«
»Sie sorgen sich nicht um mich - Sie bemitleiden mich. Aber ich will Ihr Mitleid nicht. Es ist nicht angebracht. Weil ich nämlich eine Frau gefunden habe, die mich liebt, okay? Und das, obwohl ich dachte, dass mir das nie vergönnt sein würde.« Er nahm seine Reisetasche auf. »Und sie wird ihre Operation bekommen. Weil ich dafür sorgen werde! Ich werde in dieses Flugzeug steigen, und ich werde an ihrem Bett sitzen, und dann werde ich sie gesund pflegen, und wir werden glücklich sein, okay? Wir werden bis ans Ende unserer Tage glücklich sein!«
Damit drehte er sich um und verschwand in der Abflughalle. Grace schaute ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann stieg sie wieder in den Bus. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich irrte.
»Grace! Gott sei Dank sind Sie hier!«, rief Amanda. Grace verstand das nicht. Gestern Abend beim Essen war sie regelrecht grob zu dem Mädchen gewesen - schließlich waren sie Rivalinnen. Naja - bis Amanda angefangen hatte, leise in ihre Suppe zu weinen. Da hatte Grace ihre Haare aus dem Teller gefischt und sie mit einer Wärmflasche ins Bett geschickt. Und später tröstete sie sie, als sie mitten in der Nacht aus einem Albtraum hochgefahren war, in dem Adam eine andere Frau gebumst hatte (»Eine fette Frau, Grace!«). Und heute früh hatte sie sie mit Engelszungen überredet, wenigstens ein paar Löffel Porridge zu essen, bevor sie ihr zwei Schinkensandwiches für unterwegs machte. Sie konnte es sich auch genauso gut eingestehen: Sie war Amandas neue beste Freundin.
»Was ist denn los, Amanda?«, fragte sie und hob den Hammer. Sie versuchte gerade, ein Zelt aufzustellen. An einem Hang. Mit einem starken Wind im Rücken.
»Er ist hier!« Amanda platzte beinahe vor Aufregung. Der Hammer verfehlte Graces Fuß nur um Haaresbreite.
»Wer?«, fragte sie scheinbar verständnislos.
»Adam! Er ist gesehen worden«, strahlte Amanda.
»Wirklich.«
Diesmal verfehlte der Hammer nur sehr knapp Amandas Kopf. Grace ließ ihn sinken. Es war sicherer.
»Martines Kumpel François traf John aus England, der erzählte, dass Gunther mit Ivan gesprochen hätte, der kurz davor Adam gesehen habe.«
»Wo?«
»Wo was?«
»Wo genau hatte er ihn gesehen?«
»Das weiß ich nicht. Irgendwo hier ...«
»Denken Sie nach, Amanda! Denken Sie nach!«, drängte Grace das Mädchen, doch als sie den befremdeten Ausdruck auf dem kleinen Gesicht sah, beeilte sie sich hinzuzufügen: »Ich bin nur ... äh ... neugierig.«
»Sie haben Recht. Ich hätte fragen sollen.« Jetzt schaute Amanda kummervoll drein. »Es sind fünfzigtausend Menschen hier, Grace! Ich werde ihn nie finden.«
»Unsinn.« Grace ließ den Blick verzweifelt über Gruppen von jungen Leuten wandern. Es waren nicht nur unübersehbare Massen, sie sahen auch noch alle mehr oder minder gleich aus: Jeans und T-Shirt, Jeans und abgeschnittenes Top, Jeans und ... einfach Jeans. So viel zum Streben der Jugend nach Individualität. »Vielleicht trägt er ja heute seine Khakishorts.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. »Und sein rotes Rettet-die-Welt-T-Shirt.«
Amanda schaute sie seltsam an. »Sie scheinen gut über seine Garderobe Bescheid zu wissen.«
»Ich? Nun ja...« Sie spürte, wie ihre Wangen vor Schuldbewusstsein zu glühen begannen. Sie musste eine Erklärung präsentieren. »Ich bin Modedesignerin, wissen Sie.«
»Wow!« Amanda war sichtlich beeindruckt. »Kennen Sie jemanden von den Guccis?«
»Alle«, murmelte Grace.
»Mummy isst oft mit ihnen. Die werden Augen machen, wenn sie erfahren, dass ich Sie kennen gelernt habe.«
»Ich bemühe mich, im Hintergrund zu bleiben.« Zu ihrer Erleichterung sah sie Martine den Hügel heraufkommen.
»Und?«, fragte sie in aggressivem Ton. »Wo ist der Mistkerl?«
»Wer?«, fragte Amanda erschrocken.
»Adam! Er und Joey sollten uns einen guten Platz reservieren. Stattdessen hocken wir an einem steinigen Hang weitab von der Action, während er sich abseilt, um die Musik zu genießen. Und das nach seinem ganzen Gefasel von Radikalität. Der Knabe ist ein typischer Lehnsesselaktivist.«
Amandas Unterlippe zitterte vor Empörung. »Das ist er nicht!«
»Nein? Wieso ist er dann unten an der Bühne statt hier oben bei uns?«
»Er ist unten an der Bühne?« Amandas Kopf fuhr herum. (Grace schaffte es, sich zu beherrschen.)
»Ja! Wie so ein bescheuertes Groupie«, schimpfte Martine. »Falls er sich hier oben sehen lässt, könnt ihr ihm von mir ausrichten, er soll sich verpissen, okay?« Damit stürmte sie davon, zu ihren Mitstreitern hinunter, die damit beschäftigt waren, ihre mit dem Schriftzug MOX bemalten Zelte aufzustellen und ihre Transparente zu entrollen. Einer öffnete eine Schachtel mit Flugblättern. Natürlich würden in einer Minute Sicherheitsleute auf dem Plan erscheinen. Und vielleicht sogar Polizeibeamte. Sergeant Daly hielt sie doch bestimmt wegen des möglichen Erscheinens einer Bande von Anti-Atomkraft-Demonstranten in Bereitschaft.
Amanda schluchzte trocken auf. »Da unten an der Bühne finde ich ihn nie. Was soll ich jetzt tun? Ich muss ihn sehen, Grace! Ich muss mit ihm reden!«
Ihre Knie zitterten bedenklich, und Grace sagte ungeduldig: »Um Himmels willen, Amanda - es geht nur um einen Mann!«
Einen äußerst attraktiven jungen Mann, zugegeben, mit vielen guten Eigenschaften. Einschließlich der Fähigkeit, Frauen in sich verliebt zu machen. War sie in ihn verliebt? Sie wusste es nicht mehr.
»Sie verstehen gar nichts!«, rief Amanda, was Grace angesichts der Tatsache, dass sie dem armen Ding gute zehn Jahre an Lebenserfahrung voraushatte, ein wenig irritierend fand. Nicht, dass sie viel daraus gelernt zu haben schien. Man schaue sie doch nur an! Sie spielte tatsächlich mit dem Gedanken, ihre solide, respektable und sichere Existenz gegen eine ungewisse Zukunft in einer Hütte am Strand von Tasmanien einzutauschen! Die ganze Sache war so verrückt, dass sie in schallendes Gelächter ausbrach.
»Ich dachte, Sie wären nett«, sagte Amanda und brach neuerlich in Tränen aus. »Stattdessen lachen Sie über mich.«
»Aber nein, Amanda - ich habe nicht über Sie gelacht.« Grace schaute sie an. Das Mädchen war um die halbe Welt geflogen, um Adam zu sehen. Das war Liebe. »Hören Sie auf zu jammern. Wir gehen ihn suchen, okay?«
Amanda war so überrascht, dass ihr Empörungsschluchzen sich auf ein schnurgelndes Schniefen reduzierte. »Wie sollen wir ihn unter fünfzigtausend Menschen finden?«
Gute Frage. Grace ließ den Blick wandern. Er fiel auf einen Metallpfosten, der etwa fünfzig Meter entfernt in die Höhe ragte. Zwei riesige Lautsprecher waren an seinem oberen Ende befestigt.
»Kommen Sie mit«, sagte sie im Befehlston.
Amanda folgte ihr zwar, maulte jedoch: »Wohin gehen wir denn?«
»Entschuldigung ... danke schön ... darf ich mal... danke sehr...« Grace bahnte sich den Weg durch die Menge. »Ich muss da hin.« Sie scheuchte ein paar Teenager weg, die es sich am Fuß des Pfostens gemütlich gemacht hatten. »Service«, erklärte sie ihnen.
Der Pfosten war wirklich hoch und sah rutschig aus, doch dankenswerterweise gab es Metallkrampen, die ihr den Aufstieg erleichtern würden. Sie musste nur die erste Krampe erreichen, die etwa in Schulterhöhe angebracht war, um zu verhindern, dass jeder Möchtegernkletterer sich daran versuchte.
»Ich brauche Ihre Schulter«, sagte sie zu Amanda.
»Wofür?«
»Fragen Sie nicht - stellen Sie sich einfach hier hin.« Amandas Schulter sah aus, als könnte sie nicht einmal das Gewicht einer Fliege tragen, geschweige denn einen Menschen von Graces Statur, doch als Grace ihre Hand darauf legte, erwies sie sich als erstaunlich stabil. Grace stellte den Fuß auf den Rucksack, den einer der Teenager in der Eile zurückgelassen hatte. Irgendetwas darin gab mit einem Quietschen nach, als sie mit ihrem ganzen Gewicht auftrat - es fühlte sich an wie ein Bananensandwich -, doch sie ließ sich nicht davon irritieren. Sie zog sich an dem Pfosten hoch und umklammerte ihn wie ein Affe. Jetzt musste sie nur noch die erste Krampe erreichen. Es war fast geschafft.
»Was für eine tolle Idee!«, rief Amanda, aber nach einer kleinen Pause folgte ein ängstliches »Kommen Sie nicht weiter, Grace?«.
»Doch, doch, natürlich. Ich mache nur eine kleine Verschnaufpause. Autsch! Ich glaube, ich habe mir gerade den Kaftan zerrissen.«
»Soll ich Sie vielleicht ein bisschen anschieben?«, erbot sich Amanda.
»Das wird nicht nötig sein.« Der Pfosten war zu glatt, um Halt zu bieten, doch inzwischen waren Leute auf ihre Aktion aufmerksam geworden, und Stolz und Willensstärke verliehen ihr die Kraft, sich weit genug hochzuziehen, um sich auf die erste Krampe knien zu können. »Grace!«, rief Amanda. »Ich glaube, Sie sollten das lieber lassen. Abgesehen davon, dass es gefährlich ist, werden Sie vielleicht verhaftet oder so was.«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass ich etwas Illegales tue!«, rief Grace als Zugeständnis an ihr Publikum zurück. Jemand applaudierte, und Graces Selbstvertrauen wuchs. Inzwischen hatte sie mit beiden Füßen festen Halt gefunden und begann ihren Aufstieg. Er war viel schwieriger als erwartet, und auf halbem Weg wurde ihr die Luft so knapp, dass sie fast versucht war aufzugeben. Aber das konnte sie nicht machen - nicht bei so vielen Zuschauern. Schließlich erreichte sie die Lautsprecher an der Spitze und klammerte sich an den, der ihr am nächsten hing, wobei sie inständig hoffte, dass er ordentlich befestigt war. Sie hatte Glück und sogar eine kleine Plattform zur Verfügung, auf der sie sich ausruhen konnte. Von unten klang vereinzelter Beifall herauf, und sie winkte ihren Bewunderern huldvoll zu. »Grace!«, rief Amanda. »Sind Sie okay?«
»Ja. ja.«
Es kam ihr vor, als befinde sie sich fast himmelhoch, und sie konnte meilenweit sehen, endlose Wiesen und in der Ferne verstreute Ortschaften und Unmengen von Menschen, die tief unter ihr wie Ameisen durcheinander liefen. Na ja, um ehrlich zu sein, hatten sie eher die Größe von Hunden - so weit oben war sie dann doch nicht. Der Wind spielte mit ihren Haaren, und die ganze Welt lag ihr zu Füßen, und wieder lachte sie aus vollem Halse.
»Grace! Was um Himmels willen tust du da oben?«
Sie sah hinunter. Ewan stand mit verschränkten Armen neben Amanda. Neil und Jamie waren auch da und schauten interessiert zu ihr herauf. Jeder von ihnen hatte zwei Schachteln Chips in den Händen.
»Sie hält Ausschau nach meinem Freund«, erklärte Amanda ihnen mit ernstem Gesicht.
»Was?«
»Adam. Ich wollte ihn ja eigentlich selbst suchen, aber hier unten in dem Gewühl habe ich keine Chance. Außerdem weiß Grace ja, wie er aussieht. Sie kennt ihn gut.«
Ewan sah wieder zu ihr herauf. »Du hast diesen Adam gar nicht erwähnt«, monierte er.
»Habe ich nicht?« Der Duft der Chips wehte zu ihr herauf. Hmm! Köstlich! »Das ist eine lange Geschichte, Ewan.«
Er blinzelte sie auf seine kurzsichtige Art an, die immer Zärtlichkeit in ihr weckte. »Komm runter und erzähl sie mir.«
»Ich glaube nicht, dass du sie hören möchtest«, erwiderte sie.
Er sagte etwas, doch ein Windstoß riss seine Worte auf dem Weg nach oben mit sich.
»Was ist?«, rief sie. »Ich habe dich nicht verstanden.«
»Ich sagte, ich will sie hören!«, rief er. Noch mehr Leute wurden aufmerksam, was Ewan verlegen machte, doch er fuhr trotzdem fort: »Ich will sie hören, Grace! Ich will alles hören!«
»Darf ich zu dir raufkommen?«, fragte Neil.
»Um Gottes willen! Auf keinen Fall! Du würdest abstürzen und dir den Hals brechen«, antwortete Ewan für Grace.
»Sie ist doch auch nicht abgestürzt.«
»Das könnte aber noch passieren«, argumentierte Ewan.
»Entschuldige, Grace - natürlich hoffen wir, dass es nicht passiert...«
»Schon gut. Nein, Neil, du darfst nicht raufkommen«, bestätigte Grace.
Ewan stemmte die Hände in die Seiten und starrte wütend zu ihr hinauf. »Du hast es schon wieder getan!«
»Was?«
»Dazwischengefunkt!« Er bemerkte, dass die Jungen die Ohren spitzten. »Geht rüber zu Nick«, ordnete er an. Sie gehorchten. Amanda trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Offenbar spürte sie, dass sie sich eigentlich taktvoll zurückziehen sollte, andererseits wartete sie sehnsüchtig darauf, dass Grace Adam entdeckte. »Könnten wir vielleicht ungestört miteinander reden?«, sagte Ewan in scharfem Ton zu ihr, und Grace staunte über seine Entschiedenheit.
Amanda drehte sich widerstrebend um und folgte den Jungen.
Ewan schaute kriegerisch zu Grace rauf. »Du hast meine Autorität bei den Jungs untergraben«, beschuldigte er sie. Das machst du ständig.«
Grace schnaubte verächtlich. »Welche Autorität?«, rief sie. »Du hast doch gar keine! Weil du keine haben willst! Denn das würde bedeuten, dass du schwere Entscheidungen treffen müsstest und Verantwortung übernehmen und einfach ... da sein!«
»Ich habe viel Zeit mit ihnen verbracht«, protestierte er. »Ich habe den ganzen letzten Monat mit ihnen verbracht, verdammt noch mal!«
»Ja - aber du willst nur ein Schönwettervater sein. Nur den Spaß haben! Wo warst du, als sie Windpocken hatten und Egokrisen und als Mr Guppy starb?«
»Wer zum Teufel ist Mr Guppy?«
»Neils imaginärer Freund. Der, der ihn an die Hand nahm, als er sich nicht aus dem Haus traute.«
»Neil traute sich nicht aus dem Haus?«, echote Ewan ungläubig.
»Ja. Ich fürchte, er hat hin und wieder richtige Panikattacken. Genau weiß ich es allerdings nicht, weil er sich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.«
»Wie ist Mr Guppy gestorben?«
»Ich glaube, er wurde in einer riesigen Küchenmaschine pulverisiert - aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass du nicht einmal etwas von seiner Existenz wusstest! Sieh der Tatsache ins Auge, Ewan: Du hast dich ihr ganzes Leben lang gedrückt!«
Einige der Umstehenden applaudierten.
»Weiter so, Mädchen!«, ermutigte sie jemand.
Ewan wandte sich mit feindseligem Blick an das Publikum.
»Halten Sie sich gefälligst raus!«, schnauzte er. »Sie haben doch keine Ahnung! Meine Frau war seit einem Monat nicht zu Hause. Sie hat sich mit einer jugendlichen Bande zusammengetan, sich in irgendeine politische Aktion reinziehen lassen, und jetzt hockt sie bei einem Rockfestival auf einem Lautsprecherpfosten. Ich frage Sie - handelt so eine reife Mutter?«
Der Applaus schwoll an, aber es gab auch zahlreiche Buhrufe.
»Das ist typisch für dich, mich als Idiotin hinzustellen, Ewan!«, rief sie. »Aber ich verdiene mein Geld nicht mit idiotischen Werbeslogans. Ich investiere nicht mehr Zeit und Engagement in blöde Schokoladenprodukte als in meine Familie!«
Stille. Die Zuschauer begriffen, dass die Darbietung jetzt über reine Unterhaltung hinausging, und wandten sich murmelnd ab. Doch nach dem lautstarken Wortwechsel pfostenauf-und- abwärts schienen Grace und Ewan all ihre Munition verschossen zu haben.
»Kommst du runter?«, fragte Ewan schließlich.
»Ich möchte lieber hier oben bleiben.«
»Aber die Musik fängt jeden Moment an, und du sitzt direkt neben einem Lautsprecher. Du könntest vor Schreck abstürzen .«
»Das Risiko gehe ich ein.«
Er schirmte seine Augen mit der Hand gegen die Sonne ab.
»Es tut mir Leid, dass ich dich mit den Jungs so allein gelassen habe.«
Sie stieß einen Seufzer aus. »Es geht nicht nur um die Jungs, und das weißt du auch, Ewan.«
Er lachte nervös auf. »Wir wollen doch nicht zu dramatisch werden.«
»Vielleicht möchte ich aber Dramatik. Vielleicht war mein Leben zu undramatisch. Du lebst in der aufregenden Welt der Werbung, Ewan. Ich führe potenzielle Käufer durch Einfamilien-und Doppelhäuser.« Sie korrigierte sich: »Nein, das stimmt ja gar nicht mehr. Ich habe gekündigt.«
»Tatsächlich?« Zu ihrer Verblüffung wirkte er völlig ruhig.
»Ich konnte einfach nicht mehr so weitermachen.«
»Und ... was willst du jetzt tun?« Er musste das Gefühl haben, dass diese Frage mehrere Deutungen zuließ, denn er ergänzte: »Arbeitsmäßig, meine ich.«
»Keine Ahnung. Ich kann alles tun. Oder gar nichts.« Sie dachte an Natalies Vorschlag, einen Malkurs zu belegen, und lachte auf. »Vielleicht werde ich Künstlerin.«
Er schaute sie verdutzt an. »Sei mir nicht böse - aber du kannst keinen geraden Strich ziehen.« Es war natürlich ein Scherz gewesen, aber sie hatte dabei vergessen, dass Ewan nicht eingeweiht war.
Es war in diesem Monat viel passiert - große, wichtige Dinge waren geschehen -, in das er nicht eingeweiht war. Vielleicht würde sie das ändern - aber sie war sich nicht sicher. Und das war das Problem.
»Kommst du runter?«, fragte er noch einmal.
»In einer Minute«, versuchte sie, Zeit zu schinden. »Geh doch inzwischen schon mal zu den Jungs und pass auf, dass sie nicht meine ganzen Chips aufessen.« Nicht einmal mitten in einer Ehekrise konnte sie aufhören, an Essen zu denken.
»Okay.« Er schaute sie lange schweigend an, wobei er auf den Zehen wippte, tippte albern, militärisch grüßend an seinen imaginären Käppirand und ging davon.
Grace entdeckte von ihrem Ausguck Julia, Michael und Gillian - und Nick und Charlie, die sich gerade bei einem der Imbisswagen anstellten. Gavin war nirgends zu sehen, doch Neil und Jamie lagen ausgestreckt im Gras und genossen die Sonne und ihre Chips. Ein Stück weiter unten hatten Martine, Amanda und die übrigen Anti-Atomkraft-Aktivisten fast den Aufbau ihres Lagers beendet: Auf Zelten, Transparenten und Fahnen leuchtete in Signalrot das Wort MOX.
Als sie Ewan in der Menge suchte, konnte sie ihn nicht finden.
Stattdessen stach ihr ein rotes T-Shirt ins Auge. Grace wusste schon, bevor sie den Slogan las, dass er es war. Adam. Sie hatte völlig vergessen, dass sie eigentlich auf der Suche nach ihm war.
Es ging nicht anders - sie würde ihm die Wahrheit sagen müssen. Kummervoll fragte sie sich, wie sie ihm schonend beibringen könnte, dass sie nicht bereit war, in einem fremden Land mit ihm in einer Hütte am Strand zu leben, ohne Einkommen, sich von dem zu ernähren, was die Natur ihnen bot, und ihre Kinder sich selbst zu überlassen. Es war unmöglich, das schonend zu formulieren. Doch sie war es ihm schuldig, ihn möglichst schnell über ihre neue Einsicht zu informieren. Das gebot die Fairness.
»Adam! Adam!«, schrie sie und winkte so heftig, dass sie beinahe den Halt verloren hätte. Er schaute sich suchend um. »Adam! Hier oben!«
Er entdeckte sie, und sein Ausdruck wandelte sich zu Ungläubigkeit. Vielleicht dachte er, sie sei ausgeflippt. Vielleicht kam er ja zu dem Schluss, dass sie doch nicht die Richtige für ihn wäre und er sich augenblicklich auf die Suche nach einer passenderen Partnerin für das Leben in der Hütte am Strand machen sollte.
Aber er hatte sich bereits gefasst und rief: »Grace! Du bist hier!« Und dazu lächelte er so strahlend und glücklich, dass ihre Hoffnung schwand. Also bliebe es ihr nicht erspart, ihm zu eröffnen, dass es aus war. Er begann sich den Weg durch die Menge zu bahnen, wie es Liebende oft in Filmen tun, und sie müsste laut Drehbuch vor Seligkeit vergehen hatte sie sich nicht genau danach gesehnt? Jetzt fehlte nur noch die obligatorische, musikalische Untermalung, und der Traum wäre perfekt.
Doch sie träumte solche Träume nicht mehr. Sie träumte neue Träume, in denen Clarice Starling nicht mehr vorkam, in denen sie keine zierliche Damenpistole in der Handtasche bei sich trug oder Videofilme mit Titeln wie Rita reitet wieder machte. Auch Adam kam darin nicht vor. Sie atmete tief durch und wagte sich an den Abstieg.